Wer mich kennt, weiß, dass ich für mein Leben gerne unterwegs bin und dass ich hin und wieder alleine losziehe, um den Kopf frei zu kriegen. In den letzten Wochen war es wieder soweit: der Wunsch nach einem Tapetenwechsel wurde stärker. Also setzte ich mich in einen Bus, fuhr die Nacht durch und landete in Sarajevo, wo ich in der Wohnung einer Freundin bleiben konnte.
Bereits vor acht Jahren war ich mit meiner Familie in Bosnien und verliebte mich Hals über Kopf in dieses Land. Es war das Wissen um einen schrecklichen Krieg, dessen Folgen bis heute sichtbar sind, eine Mischung aus schwer greifbarer Melancholie, freundlichen Menschen und grandiosen Landschaften. Und dann kamen wir nach Mostar und es war endgültig um mich geschehen. Wir verbrachten nur zwei Stunden dort, und in dieser kurzen Zeit brannte eine Sehnsucht in meinem Herzen, die ich nur schwer einordnen konnte.
Seit damals wollte ich noch einmal zurück, wollte herausfinden, was es ist, das mich an diesem Ort so sehr berührt hat. Also stehe ich um halb sechs Uhr auf, um den Zug von Sarajevo nach Mostar zu erwischen. Komme im letzten Moment am Bahnhof an, wo es keine Anzeigentafeln und keinen Hinweis darauf gibt, zu welchem Bahnsteig ich muss. Renne Stiegen hinauf, sehe einen Zug am Gleis nebenan stehen, renne wieder hinunter. Eine Frau kommt an mir vorbei, ich keuche „The train to Mostar?“. Sie antwortet „You don‘t have to hurry, it‘s still three minutes“. Sie geht seelenruhig vor mir die Stufen hinauf und spricht mit dem Schaffner, weil ich keine Zeit mehr hatte, ein Ticket zu kaufen. Der setzt eine strenge Miene auf und erklärt mir, dass ich drei Bosnische Mark extra zahlen muss.
Wir fahren los, die Landschaft außerhalb Sarajevos versinkt im Nebel. Doch bald kämpft sich die Sonne durch und wir werden von grünen Hügeln begleitet, unterbrochen von zu vielen Tunnels, die mir die Sicht nehmen. In einem der Tunnels dann ein lautes Krachen, als ob etwas auf den Zug gefallen wäre. Der Zug kommt kurz nach dem Tunnel zu stehen und dann geschieht lange nichts. Endlich taucht ein Zugbegleiter auf und erklärt, was passiert ist, ein älterer Bosnier übersetzt für mich ins Englische: ein Stein hat sich aus der Tunneldecke gelöst und hat die Elektronik der Lokomotive beschädigt. Eine neue Lokomotive wurde aus Mostar angefordert, aber es kann eine Stunde dauern, bis sie da ist.
Eine Stunde vergeht, dann noch eine. Ich unterhalte mich mit dem Bosnier, einem Universitätsprofessor, und er erzählt mir, dass er kurz vor dem Krieg mit seiner Familie in die USA ging und nach 20 Jahren zurückkehrte. Auf die erstaunten Fragen seiner Studenten, warum er nicht geblieben sei, lautete seine Antwort: „Weil es sich hier gut leben lässt.“ Die Fahrgäste bleiben ruhig, ich höre viel Gelächter und gehe in die Kaffeebar, um etwas zu trinken. Dort haben einige Leute sich versammelt und unterhalten sich angeregt. Nur manche schauen nervös in ihr Handy, doch niemand scheint sich zu beschweren. Der Zug steht mitten in einem Waldstück, einige Türen sind geöffnet und ich strecke meine Nase hinaus, um die frische Luft einzuatmen.
Endlich geht die Fahrt weiter und wir erreichen Mostar nach weiteren Unterbrechungen mit drei Stunden Verspätung. Ich bin sofort wieder verliebt in diese Altstadt mit dem orientalischen Charme, dem türkisgrünen Fluss, der berühmten Brücke. Ich finde das Café wieder, wo ich damals mit meinem Mann saß und auf den Fluss schaute – mit dem Gedanken im Kopf: ich will hier nicht mehr weg.
Nun sitze ich wieder hier und denke an die Worte des Universitätsprofessors und an ein Gespräch mit der jungen Frau aus dem Zug: dass die Menschen am Balkan viel entspannter seien als im Rest Europas. Und mir wird klar, dass es das ist, was die Menschen in diesem Land uns beibringen können: Leben und leben lassen.