In seiner Aktentasche trägt Jean Ziegler Fotos eines Buben mit sich, dessen Gesicht vom Hunger entstellt ist. Dazu den World Food Report der FAO und die Erklärung der Menschenrechte. „Manchmal denke ich mir, scheiße, noch eine Konferenz. Doch dann sehe ich mir diese Bilder an und weiß, warum ich spreche.“
Mit diesen Worten beginnt die Doku „Jean Ziegler – Optimismus des Willens“ des Schweizer Regisseurs Nicolas Wadimoff. Jean Ziegler ist Soziologe, Bestsellerautor, Globalisierungskritiker, bezeichnet sich selbst als Rebell und Bolschewik. Von 2000 bis 2008 war er UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, seit 2008 ist er Mitglied des Beratenden Ausschuss des Menschenrechtsrats der UNO. Mit seinen 83 Jahren ist er unermüdlich unterwegs, um auf die Ungerechtigkeiten dieser Welt aufmerksam zu machen, aufzuklären und aufzurütteln. Kürzlich erschien sein aktuelles Buch „Der schmale Grat der Hoffnung“.
„Hunger kann schon morgen aus der Welt geschafft werden.“
Sein Schlüsselerlebnis hatte Ziegler im Kongo, im Jahr 1961. Im Rahmen eines UNO-Einsatzes hielt er sich in einem Hotel in der Stadt Kalina auf. Jeden Abend leerten die Hotelköche die Essensreste über den Zaun. Jeden Abend kamen hungernde Menschen, um sich diese Reste zu holen, wurden jedoch von Soldaten vertrieben. „Damals schwor ich mir, niemals wieder auf der Seite der Henker zu stehen.“
Seit diesem Erlebnis ist eines der Hauptanliegen des kämpferischen Schweizers der globale Hunger. Er nennt ihn ein „organisiertes Verbrechen“ und jedes Kind, das an Hunger stirbt, ein ermordetes Kind. „Hunger ist von Menschen gemacht und kann von Menschen morgen aus der Welt geschafft werden“, ist Ziegler überzeugt. Die Verbrecher stehen für ihn fest: Neoliberalen Marktkräfte und Börsenspekulationen auf Grundnahrungsmittel, die die Lebensmittelpreise in Ländern des Südens in die Höhe treiben. Laut Weltbank kontrollierten 2015 die 500 mächtigsten Privatkonzerne mehr als 53 Prozent des weltweiten Sozialprodukts. „Sie kennen nur eine Strategie: Profitmaximierung“, kritisiert Jean Ziegler. Doch er ist auch überzeugt: „Wir können jederzeit aufstehen und ein Verbot dieser Spekulationen einfordern.“
„Wir haben die Verpflichtung, den anderen eine Stimme zu geben.“
Der 83 jährige wird nicht müde, die Macht der Zivilgesellschaft zu betonen und die Verantwortung, die wir für andere tragen. „Wir sind eine privilegierte Minderheit, die nur durch Zufall verschont ist von Hunger, Armut und Diktatur“, sagt Ziegler. „Wir haben die Verpflichtung, den anderen, die nicht so privilegiert sind, eine Stimme zu geben.“ Dass viele Menschen in Industrieländern sich zu wenig für die Armen dieser Welt einsetzen, hängt für Jean Ziegler mit der Entfremdung durch die „neoliberale Wahnidee“ zusammen. „Wenn jemand in Österreich sagt ‚Ich kann ja nichts tun‘, ist etwas in seiner Bewusstseinsbildung ganz falsch gelaufen, er ist sich selbst fremd geworden.“ Er nennt als Positivbeispiel den Einsatz der österreichischen Bevölkerung für Flüchtlinge: „Was die Österreicher für Flüchtlinge tun, aber auch die Mobilisierung der liberalen Kräfte vor der Bundespräsidentenwahl, ist exemplarisch für europäische Werte.“ Ein scharfes Urteil fällt der Globalisierungskritiker über die EU: „Drei Millionen Flüchtlinge stehen an den Grenzen Europas, die durch Stacheldraht „geschützt“ sind. Damit verletzt die EU massiv die Asylrechtskonvention, diese Kommissare sollten vor den Strafgerichtshof“, klagt Ziegler an. Kritik äußert Ziegler auch an der UNO und am vorherrschenden Vetorecht: „Russland hat bereits achtmal Veto gegen eine UNO-Intervention in Syrien eingelegt.“ Auch im Gazastreifen, der von Ziegler als Ghetto bezeichnet wird, spiele sich eine Tragödie ab, die Menschen dort seien eingeschlossen. Doch die USA hat Veto gegen eine UNO-Intervention in Gaza eingelegt. Abhilfe soll ein Reformvorschlag des ehemaligen UNO-Generalsekretärs Kofi Annan aus dem Jahr 2006 schaffen: Kein Vetorecht, wo es Verbrechen gegen die Menschlichkeit gibt. Laut Ziegler arbeiten zur Zeit weltweit Expertenkommissionen daran, diesen Vorschlag umzusetzen.
Auf die Frage, was ihn in seinem hohen Alter aufrecht hält, vergleicht sich der Schweizer mit einem Marathonläufer, der immer weiter macht. „Selbstzweifel stören nur.“ Und ergänzt: „Ich glaube nicht, dass wir durch Zufall auf der Welt sind.“