Infolge der Corona-Maßnahmen ist die Zahl an jungen Menschen mit psychischen Erkrankungen massiv gestiegen – es besteht dringender Handlungsbedarf.
In kaum einem anderen europäischen Land waren Schulen und Universitäten während der Corona-Zeit so lange geschlossen wie in Österreich. Bereits im Sommer 2020 gab es erste Daten zu den drastischen Auswirkungen der Schulschließungen. In Frankreich oder der Schweiz gab es aufgrund dieser Erkenntnisse keine Schulschließungen mehr, in Österreich wurde dieses Wissen ignoriert – hier folgte im Herbst 2020 der nächste Lockdown, die Schulen wurden wieder geschlossen. „Was auffiel: in der Ambulanz für psychiatrische Notfälle am AKH stieg schon nach Ankündigung der Schulschließungen der Bedarf der Jugendlichen an“, sagt Katrin Skala, Leiterin der Akutstation der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Wiener Allgemeinen Krankenhaus (AKH).
Die Auswirkungen der Lockdowns waren für Jugendliche enorm: Ein massiver Anstieg an Essstörungen und an depressiven Störungen seit dem Winter 2020/21. Ab 2022 ein Anstieg beim Drogenkonsum, vor allem bei jungen Mädchen sowie eine Zunahme der Sterblichkeit durch diese Substanzen. „Bereits 2021 hatten wir 14 und 15jährige HeroinkonsumentInnen, die vor Covid MusterschülerInnen waren,“, sagt Skala. „Auch Suizidversuche bei Jugendlichen haben sich mehr als verdoppelt.“
Dringender Handlungsbedarf
Im Dezember 2021 ergab eine Studie des Departments für Psychotherapie und Biopsychosoziale Gesundheit an der Donauuniversität Krems: 62 Prozent der Mädchen und 38 Prozent der Burschen wiesen eine mittelgradige depressive Symptomatik auf. Weiters hatten sich depressive Symptome, Angstsymptome oder Schlafstörungen verfünf- bis verzehnfacht. „Die psychische Belastung ist besorgniserregend und die bisherigen Maßnahmen reichen hier ganz offensichtlich nicht“, mahnte Studienautor Dr. Christoph Pieh. „Ich kann mich nur wiederholen, aber es besteht dringender Handlungsbedarf nach viel mehr Unterstützung.“
„Als im Sommer 2022 für die Schüler der Wahnsinn vorbei war und die Schulen wieder geöffnet wurden, hofften wir, dass die Zahlen nun rückläufig sein würden“, erzählt Katrin Skala. Aber sie stiegen weiter an: Depressionen, Suizidversuche, Suchterkrankungen – auch im Zusammenhang mit harten Drogen. „Was auffällt: Es findet eine Verschiebung zu Jüngeren statt. Vor dem Herbst 2020 hatte es keine Suizidversuche bei 10 bis 11 jährigen oder Herionkonsumenten im Alter von 13 Jahren gegeben, nun gibt es solche Fälle“, so Skala.
Auch junge Erwachsene betroffen
„Es ist erschütternd, mit welcher Nonchalance über die Generation, die unsere Zukunft bedeutet, drübergefahren wurde“, kritisiert Katrin Skala. Auch junge Erwachsene sind überdurchschnittlich von psychischen Erkrankungen betroffen: Im Jänner 2021 berichteten rund 50 Prozent der 18- bis 24-Jährigen von depressiven Symptomen, 34 Prozent von Angstsymptomen und 24 Prozent von Schlafstörungen. Noch 2018 hatten 90 Prozent der Teilnehmer einer regelmäßig durchgeführten europäischen Schülerstudie (HBSC) in Österreich angegeben, einen ausgezeichneten oder zumindest guten Gesundheitszustand zu haben. Eine OECD-Studie zeigte, dass zwischen März 2020 und Mai 2021 die österreichischen Universitäten an 222 Tagen geschlossen waren – nur in Polen waren die Unis noch länger zu. Doch nicht nur die Lockdowns haben sich laut Katrin Skala auf die Psyche junger Menschen ausgewirkt, sondern auch der Impfdruck oder gesellschaftliche Entwicklungen wie das Verpetzen von Menschen, die die Maßnahmen hinterfragten.
„Die Symptome der Belastung vieler junger Menschen – psychosomatische Beschwerden, Freudlosigkeit Depression, Ängste – sind nicht mehr zu übersehen“, sagt Dr.in Caroline Culen, Geschäftsführerin der Österreichischen Liga für Kinder- und Jugendgesundheit. „Kinder und Jugendliche haben sich in der Corona-Pandemie unglaublich kooperativ, rücksichtsvoll und solidarisch gezeigt“, so Culen. „Aber ihre Bedürfnisse wurden die längste Zeit übersehen.“ Viele der wichtigsten Entwicklungsaufgaben konnten nicht vollzogen werden: Schritte Richtung Selbständigkeit, außerfamiliäre Freundschaften oder Abnabelungsprozesse.
Die Lage bleibt kritisch
Auch drei Jahre nach dem ersten Corona-Lockdown ist die Lage kritisch: „Erst kürzlich hieß es ,Wien ist voll’“, sagt Katrin Skala. „Das bedeutet, dass alle Betten in den psychiatrischen Abteilungen am AKH und am Rosenhügel besetzt sind, und auch die „Transitionspsychiatrien“, in welchen 16-24 jährige versorgt werden können.“ Noch finden akut Gefährdete einen Platz. „Doch wir haben lange Wartelisten und der Druck steigt.“
Verschärft wird die Lage dadurch, dass das Unterbringungsgesetz geändert wurde, es muss nun nicht mehr eine aktuelle akute Gefährdung gegeben sein. Auch im Maßnahmenvollzug gibt es eine Neuerung: „Minderjährige psychisch abnorme Rechtsbrecher dürfen nicht mehr so einfach wie bisher in Gefängnissen verwahrt werden. Das ist insofern problematisch, als es dort Therapiemöglichkeiten für sie gäbe, die in dieser Form „draussen“ nicht vorhanden sind“, so Skala.
Wie geht es nun weiter?
„In Großbritannien sind Experten für Mental Health, also für die psychische Gesundheit, in fast allen politischen Gremien vertreten“, sagt Katrin Skala. „Bei uns waren es während Corona vor allem Virologen, Physiker und Mathematiker, die das Sagen hatten – sie alle hatten nicht direkt mit Menschen zu tun.“ Skala betont, dass die Gesundheitsversorgung weg von den Krankenhäusern und zu den Menschen nachhause müsse, etwa in Form von Home Treatments Teams. „Die Arbeitsbedingungen für Gesundheitspersonal müssen besser werden, das betrifft auch die Bezahlung. Die Regierung muss hier dringend mehr Geld in die Hand nehmen.“ Trotz des großen Bedarfs betragen laut UNICEF die Regierungsausgaben für mentale Gesundheit im globalen Durchschnitt nur 2,1 Prozent der Ausgaben für Gesundheit insgesamt. In den Industrieländern kommen 5,5 PsychiaterInnen, die sich auf Kinder und Jugendliche spezialisiert haben, auf 100.000 Einwohner.
Martin Sprenger, Allgemeinmediziner und Public Health-Experte, hat die anhaltenden Schulschließungen in Österreich immer wieder kritisiert. „Inzwischen ist allgemein anerkannt, dass die Kollateralschäden durch die während der Pandemie verhängten Maßnahmen die Risiken einer Corona-Infektion bei Kindern und Jugendlichen um ein Mehrfaches übersteigen.“ Sprenger ist überzeugt: „Wir dürfen nicht nur auf eine Krankheit schauen, sondern müssen einen gesamtgesellschaftlichen Blick einnehmen.“