Maren Urner ist deutsche Neurowissenschaftlerin und Professorin für Medienpsychologie. 2016 gründete sie das konstruktive Online-Magazin Perspective Daily mit. In ihrem aktuellen Buch „Raus aus der ewigen Dauerkrise. Mit dem Denken von morgen die Probleme von heute lösen“ plädiert sie dafür, gewohnte Denkmuster hinter uns zu lassen.
Die Grundaussage deines Buches lautet: It‘s all in your head, es ist alles in unserem Kopf. Indem wir die innere Einstellung verändern, können wir die äußeren Aspekte unseres Lebens verändern. Wie kann man Menschen dieses Wissen zugänglich machen?
Je emotionaler aufgeladen etwas ist, desto eher bleibt es bei uns hängen, das können wir gut in Werbekampagnen, aber auch in den Medien beobachten. Wir können uns fragen: Welche Emotionen sollen wir ansprechen, um wegzukommen von der Hilflosigkeit, dem Überwältigtsein, gerade mit Blick auf die Krisen? Weg von dem Gefühl, ich kann sowieso nichts ändern hin zu einer Gefühlslage, die uns dazu bringt, aktiv zu werden? Dabei hilft uns ein Zugang, den ich das „dynamische Denken“ nenne und dessen erste Zutat lautet: „Wofür“ statt „wogegen“. Also mich zu fragen: Wofür will ich mich einsetzen? statt: Wogegen kämpfe ich an? Das führt zur zweiten Zutat des „dynamischen Denkens“: Gruppen neu definieren. Dabei geht es darum, zu schauen, was uns verbindet, statt immer erst zu sehen, was uns trennt und differenziert.
Gerade in Zeiten von Corona scheint die Spaltung der Gesellschaft sich zu vertiefen, andererseits finden sich auf Corona-Demos Rechtsradikale gemeinsam mit „Opa Willy“ ein, wie du es in deinem Buch beschreibst.
Ja, ich habe auch beobachtet, wie medial und privat vielerorts diskutiert wurde: Wie kann das sein, dass auf den sogenannten Corona-Demos Menschen zusammenkommen, die offensichtlich sehr unterschiedliche Weltanschauungen haben? Was diese Menschen aus psychologischer Sicht verbindet, ist ein Gefühl des kompletten Kontrollverlustes und der damit einhergehenden Angst. Die Unsicherheit, nicht mehr zu wissen, was morgen passiert, wenn mein Leben, mein Alltag, meine Planung, über Bord geworfen worden ist. Dieses Virus führt aus psychologischer Sicht zu den unterschiedlichsten Bewältigungsstrategien. Aufgrund unserer bisherigen Erfahrungen im Leben und unserer Genetik nehmen wir die Welt alle unterschiedlich wahr – darum ist es so wichtig, dass wir darüber sprechen. Kommt es in Extremsituationen wie der aktuellen Pandemie dann zum geteilten Gefühl des Kontrollverlustes und der Angst, ist das eine explosive Mischung. Denn was wir auch wissen, ist, dass Angst und Stress im Kopf und im menschlichen Körper generell dafür sorgen, dass wir schlechte, weil kurzfristig gedachte, Entscheidungen treffen.
Stichwort Angst: Die wird von Medien, vor allem Boulevardmedien, in Form von Negativschlagzeilen permanent geschürt. Du bist eine Verfechterin des Konstruktiven Journalismus, um den es in deinem ersten Buch „Schluss mit dem täglichen Weltuntergang“ geht. Wie könnte man denn zu Corona konstruktiv berichten?
Gerade diese Zeit könnte doch eine Sternstunde des Konstruktiven Journalismus sein, wenn JournalistInnen es schaffen, ihre Gewohnheiten neu aufzustellen. Denn jeder Einzelne von uns hat sich in diesem vergangenen Jahr allmorgendlich wohl die Frage gestellt: Was jetzt? Wie geht es jetzt weiter? Genau das ist die Kernfrage und die übergeordnete Herangehensweise des Konstruktiven Journalismus. Trotzdem wurden in vielen Medien wieder Ängste geschürt, weil das erstmal die besseren – monetär betrachtet – Zahlen gebracht hat. Das ist leider sehr kurzfristig gedacht. Stattdessen zu schauen, was wir aus der Pandemie für andere Herausforderungen – allen voran die Klimakrise –mitnehmen können, hilft den Menschen, besser zu verstehen und vor allem besser vorbereitet zu sein.
Wie kann man denn den Menschen Zuversicht geben, gut durch diese Krise zu kommen?
Das bringt mich zurück zum Eingangsstatement: Alles beginnt in unserem Kopf! Und natürlich der lösungsorientierten Denkweise: Wie gehen wir jetzt damit um? Dabei geht es nie darum, Ängste, Sorgen und Probleme zu ignorieren oder kleinzureden, sondern die Kernfrage: Wie wollen wir weitermachen? Wunderbar auf den Punkt bringt es das Zitat des Psychotherapeuten Steve de Shazer: „Das Reden über Probleme schafft Probleme, das Rede über Lösungen schafft Lösungen“. Wir müssen in unseren privaten und politischen Debatten davon wegkommen, ständig mit dem Finger auf andere Menschen zu zeigen und uns immer wieder fragen: Wie wollen wir eigentlich leben? Und das wirklich ehrlich und ernst meinen! Ehrlichkeit ist dabei mehr als eine „nette Zutat“, sondern eine riesige Chance. Zu Beginn der Pandemie habe ich einen Podcast mit einer Kriegsreporterin gehört, die sagt: „Kriege und Krisen machen ehrlich“. Das ist es, was mir Hoffnung macht.
Bei diesen grundlegenden Fragen wie „Wie wollen wir leben“, bei kritischem und eigenverantwortlichen Denken müsste man doch schon in der Schule ansetzen.
Richtig, das Bildungssystem gehört von Grund auf verändert. Es geht hier um Denkweisen, die wir in jedes Schulfach integrieren müssen, nämlich ein kritisches und langfristiges Denken. Stichwort Nachhaltigkeit: Wir können uns ein Beispiel an den indigenen Völkern nehmen, die zum Teil sieben Generationen vorausdenken und bei jeder Entscheidung mit einplanen, wie sich das auf nachfolgende Generationen auswirkt. Es geht auch darum, die Kompetenz zu entwickeln, die eigene und Fremdwahrnehmung kritisch zu hinterfragen. Es muss ein grundlegendes Verständnis dafür geben, dass alles in unserem Kopf beginnt. Dazu gehört auch die Frage: Welche Bedingungen müssen wir schon im Kindesalter schaffen, damit Menschen lernen, Meinungen von Fakten zu unterscheiden und nicht angstgetrieben durch die Welt steuern.
Wie sieht es mit der Eigenverantwortung aus, sollte das auch in der Schule gelehrt werden?
Damit wären wir bei der Fehlerkultur und im nächsten Schritt, der nicht nur die Schule, sondern die ganze Gesellschaft betrifft, bei der Belohnungsstruktur. Und wir kommen zur dritten – und letzten – Zutat des „dynamischen Denkens“: Welche Geschichten erzählen wir uns? Was sind die (Spiel-)Regeln? Welche Belohnungsstrukturen schaffen wir uns? Wer schafft es nach „oben“, wer hat „Macht“ und „Erfolg“? Das Verständnis dieser Konzepte basiert immer auf bestimmten Wertevorstellungen und damit verbundenen Geschichten, die wir uns als Menschen erzählen. Sie sind keine Naturgesetze, sondern menschengemacht – und damit veränderbar. Wir müssen uns ehrlich fragen: Was bedeutet es eigentlich, gesellschaftlichen Erfolg zu haben und wer hat diesen Erfolg? Ist es vielleicht sogar besser, statt von Macht über Verantwortung zu sprechen? Genau bei solchen Fragen können wir die Geschichten verändern, die wir uns täglich erzählen,.
Eine Zutat für das „dynamische Denken“ ist laut deinem Buch die Neugier. Kinder sind ja von Natur aus neugierig, wie können wir uns diese im Erwachsenenalter erhalten?
Da sind wir wieder bei den Belohnungsstrukturen. Wie du richtig sagst, sind wir alle von Natur aus neugierig. Sämtliche Langzeitbeobachtungen zeigen aber, dass diese Neugier im Alter abnimmt. Möglicherweise liegt das – zumindest zu einem gewissen Grad – daran, dass wir neugieriges Verhalten nicht genug stimulieren und belohnen. Wir können also zum Beispiel unsere Fehlerkultur überdenken und neugieriges Verhalten so stimulieren, dass auch Fehler belohnt werden. Wer sich psychologisch sicher fühlt, auch etwas „falsches“ zu sagen oder zu tun, verhält sich neugieriger und wagt mehr Neues. Wir können also Strukturen schaffen, die es belohnen, über den Tellerrand zu schauen statt zu bestrafen.