Wölfe faszinieren mich seit meiner Kindheit: Ich wollte mehr über diese oftmals unverstandenen Tiere erfahren.
Also machte ich mich auf den Weg zum Wolf Science Center (WSC) in Ernstbrunn, wo das Verhalten von Wölfen und Hunden sowie ihre Beziehung zu Menschen untersucht wird. Das WSC ist Teil des Wildparks Ernstbrunn und liegt inmitten des Naturparks Leiser Berge. Vorbei an Eseln, Wildschweinen und Wieseln gelangt man zum Forschungszentrum. Kurt Kotrschal, Biologie-Professor an der Uni Wien und Leiter des WSC, erwartet mich am Eingang eines Wolfsgeheges. „Hier dürfen keine Besucher hinein, die mögen keine Fremden.“ Kotrschal begrüßt seine Freunde, drei schwarzgraue Wölfe, durch das Gitter und streichelt sie.
Beim nächsten Gehege habe ich mehr Glück: Nach einigen Anweisungen – nicht zu lange in die Augen schauen und nur von unten streicheln – darf ich mit Kotrschal hinein zu den Wölfen. Er fordert mich auf, mich auf einen abgeschnittenen Baumstamm zu setzen, um auf „Augenhöhe“ mit den Tieren zu sein. Dann kommt auch schon Chitto gelaufen, ein wunderschöner hellgrauer Wolf. „Er ist unser Lebenskünstler, ein richtiger Sunny Boy“, sagt Kotrschal. Chitto beschnuppert mich neugierig, streift um mich herum. Ich genieße den Augenblick, streiche vorsichtig über Chittos Fell, das sich weich und gleichzeitig struppig anfühlt. Auch Tala Eristoff, Chittos Rudelgefährtin, pirscht sich heran und wird von Kotrschal begrüßt. Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, diese prachtvollen Tiere aus nächster Nähe zu beobachten.
Welpenaufzucht
„Die Wölfe sind von klein auf Menschen gewöhnt“, erklärt der Wissenschafter, der das Wolf Science Center 2008 mit zwei weitereren Forschern gründete. „Unsere Betreuer nehmen anfangs die Rolle des Rudels ein und ziehen die Welpen sechs Monate lang auf.“ Ohne Verbote oder Strafen. „Das würde sofort auf Widerstand stoßen – schließlich sind Wölfe keine Hunde.“ Die sensitive Betreuung ist in den ersten Jahren am wichtigsten. „Wir scheinen unsere Sache gut zu machen, da die erwachsenen Wölfe sehr ruhig und kooperativ sind“, so Kotrschal. Damit die Welpen ein Grundvertrauen zum Menschen aufbauen, müssen sie in die Obhut des Menschen gelangen, bevor sie die Augen öffnen, in der Regel innerhalb von zehn Tagen. Nur dann akzeptieren sie den Mensch als Mutterersatz. „Für die Wolfsmutter ist der Verlust von einigen Welpen ein natürlicher Prozess, den sie auch bei der Aufzucht in freier Wildbahn immer wieder erlebt“, erläutert Kotrschal. Die jungen Wölfe kommen aus allen Teilen der Welt – die derzeit im WSC lebenden Welpen wurden aus Tierparks in Kanada und Russland übernommen. Später, im Welpengehege, warte ich vergebens auf näheren Kontakt mit den Kleinen. Sie schlafen gut versteckt hinter einem Busch und lassen sich durch den Besuch nicht stören. Nur einmal kommt ein kleiner Wolf auf uns zugetapst – und macht bei meinem Anblick sofort wieder kehrt.
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Menschenähnlich
„In ihrer sozialen Mentalität sind Wölfe von allen Tieren dem Menschen am ähnlichsten“, erklärt Kotrschal. In der Kleingruppe wird beim Aufziehen des Aufwuchses oder der Nahrungsbeschaffung kooperiert, gegnerische Gruppen werden bekämpft. Am WSC werden auch die Unterschiede zwischen Wölfen und Hunden untersucht, 17 Hunde aus ungarischen Tierheimen leben derzeit hier. „Auch die Hunde leben bei uns in Rudeln, um sie besser mit den Wölfen vergleichen zu können“, erklärt Kotrschal. Die Unterschiede spiegeln die Anpassung der Hunde an den Menschen. „Hunde sind an Menschen interessiert und leichter sozialisierbar, für Wölfe sind Menschen nicht so wichtig.“ Unser Spaziergang durch den Tierpark führt uns auch zu einem Wolfsgehege, in dem gerade die Fütterung stattfindet. In hohem Bogen werden von Betreuern ein toter Hase und ein Truthahn über den Zaun geworfen. Ein stattlicher weißer Wolf stürzt sich sofort auf die Beute, während das zweite Tier, offensichtlich ein Weibchen, aus einiger Entfernung zusieht. Meiner laut ausgesprochenen Vermutung, dass bei Wölfen wohl die Männchen das Sagen (und Fressen) hätten, widerspricht Kurt Kotrschal sofort. „Die Hierarchie innerhalb der Gruppe ist sehr flach, wer mehr Hunger hat, frisst zuerst.“ Immerhin gibt es im WSC auch Wolfsrudel mit weiblichen Anführern.
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Schlechter Ruf
Seit Menschengedanken hält sich die Legende vom „bösen Wolf“, obwohl Angriffe auf Menschen äußerst selten sind. Woher kommt dieser schlechte Ruf? Kurt Kotrschal führt ihn auf die Tatsache zurück, dass Wölfe seit jeher Schafe, Nutztiere des Menschen, gejagt hätten. „Bereits im alten Testament gibt es den Gegensatz zwischen dem ‚guten Hirten‘ und dem ‚bösen‘ Wolf. Im Mittelalter war der Wolf das Symbol für Heidentum.“ Bei Jägern und Sammlern wie den nordamerikanischen Indianern seien Wölfe dagegen immer respektiert worden. „In diesen Kulturen wurden Wölfe nie gejagt“, weiß Kotrschal. Apropos Jagen: Die Tatsache, dass es in Österreich nie mehr als drei bis fünf freilebende Wölfe gegeben hat, erklärt sich der Wissenschafter damit, dass diese illegal geschossen würden. „Österreich ist das einzige mitteleuropäische Land ohne Wolfsrudel.“ Sobald Wolfsspuren auftauchten, würden Proben genommen. „Wie das Amen im Gebet ist der Wolf nach ein paar Wochen weg.“ Auch 30 Bären, die in den letzten 20 Jahren in Österreich gesichtet wurden, seien wieder verschwunden. Dabei steht laut einer Umfrage des WSC eine Mehrheit der Österreicher Wölfen und Bären durchaus positiv gegenüber.